Unseliger Büroschlaf
Traurige Kaffeetassentropen: der niederländische Roman "Het Bureau" beschreibt
grauen Alltag
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. Januar 2001
Blickt man dieser Tage auf die Niederlande, wird man Zeuge eines höchst
ungewöhnlichen literarischen Phänomens. Vor ein paar Wochen ist der siebte und letzte
Band eines Romans erschienen, der die Niederländer in den letzten fünf Jahren zu wahren
Lesejunkies gemacht hat: "Het Bureau", die 5000seitige Bürosaga J.J. Voskuils. Erzählt
wird darin die 30 Jahre umspannende Leidensgeschichte eines gewissen Maarten Koning,
der als "Wissenschaftlicher Beamter" sein Dasein an einem kleinen Amsterdamer Institut
für Volkskunde fristet, ebenjenem "Bureau", das man, wie die Hauptfigur nicht müde wird
zu betonen, dichtmachen könnte, ohne daß ein Hahn danach krähen würde. Tatsächlich
ist das, was man dort veranstaltet, eher ein Fall für den Rechnungshof als für die Annalen
der Wissenschaft: Projekte, in denen es um die Verbreitung von
"Wichtelmännchen-Erzählungen" geht, den "Kornschreck" oder - um auch einmal ins
Ausland zu kommen - die sogenannte "Europäische Karte der Jahrfeuer". Die Kollegen,
mit denen Maarten sich herumschlagen muß, machen es ihm auch nicht eben leichter,
seiner Arbeit einen Sinn abzuringen, "ein Haufen Tölpel", der ihm das Leben zur Hölle
macht: Dilletanten, Intriganten und Speichellecker, kurzum das ganze Spektrum
menschlichen Elends. Und dann die endlosen Sitzungen irgendwelcher obskuren
Kommissionen und Arbeitsgruppen, deren Existenzberechtigung einzig darin zu bestehen
scheint, überschüssigen Intellekt in halbwegs organisierte Bahnen zu lenken - es ist ein Bild
des Grauens.
Was wie eine Satire auf den modernen Wissenschafts- und Bürobetrieb erscheint, ist für
seinen Autor, den Amsterdamer Volkskundler J.J. Voskuil (74), jahrzehntelang bitterer
Ernst gewesen. Mit "Het Bureau" hat er nämlich nicht nur der westeuropäischen
Angestelltenkultur eine eigene Sprache gegeben, sondern sich zugleich sein Leben als
Wissenschaftler am "P.J. Meertens-Institut für niederländische Sprache und Kultur" von
der Seele geschrieben - und das mit schonungsloser Offenheit.
Die Niederländer lieben "Het Bureau", wie die 250.000 bislang verkauften Einzelbände
bezeugen. Längst ist ein regelrechter Kult um den Roman entstanden, der sich etwa darin
äußert, daß sich überall in den Büros und Amtsstuben des Landes Voskuil-Fanclubs
gebildet haben, in denen man sich über die neuesten Entwicklungen rund um das "Bureau"
auf dem laufenden hält. Dies gilt im übrigen nicht nur für wissenschaftliche Institute und
den öffentlichen Dienst, sondern auch für große, multinationale Firmen wie Shell oder
Philips. In manchen Büros, so wird berichtet, werden Kollegen bereits nach den
Romanfiguren aus "Het Bureau" benannt: nach dem mürrischen und machtversessenen
Direktor Jaap Balk etwa, nach Bart Asjes, der 20 Jahre braucht, um einen Artikel zu
schreiben, der vor der Drucklegung dann auch noch eingestampft werden muß, oder nach
Wigbold, dem erzfaulen Hausmeister, der Maarten zufolge jeden Morgen eine Tracht
Prügel verdienen würde.
Und die Romanfiguren selbst? Eine von ihnen, Koos Rentjes - bzw. sein reales Ich, Rob
Rentenaar, der im Roman als karrieresüchtiger Schwätzer brilliert - hat ein "Who is who
in Het Bureau" veröffentlicht, in dem er die Klarnamen des Horrorkabinetts preisgibt,
mit dem Maarten, bzw. Voskuil, sich umgeben mußte. Und gemeinsam mit
"Roman"-Kollegen veranstaltete er - unter riesigem Andrang aus der Bevölkerung -
Führungen durch das Meertens-Instituut, also durch die Räumlichkeiten, in denen sich
"Het Bureau" abspielt. Man sah den "Kaffeeraum", sozialer Treff- und Brennpunkt des
Instituts gleichermaßen, den Platz, an dem Ad Muller saß und von dem aus er
unzählige Male mitteilte, daß er sich "vergrippt" fühle und sich - für’s erste - bis zum
Ende der Woche nicht mehr blickenlassen würde, oder den riesigen Schreibtisch des
ehemaligen Institutsdirektors Beerta, eine "pfeifenlose Orgel", wie Maarten einmal
bemerkt.
Der Autor und sein Verleger Wouter van Oorschot haben nach Kräften dazu beigetragen,
um den Roman über die Jahre hinweg im Gespräch zu halten und die Spekulationen über
das Ende des Martyriums von Maarten Koning wuchern zu lassen. Diesbezügliche
Anfragen interessierter Leser hat es viele gegeben, und manche konnten sogar sehr triftige
Gründe dafür anführen. So wird kolportiert, daß die Amsterdamer Stadträtin Annemarie
Grewel sich kurz vor ihrem Krebstod an den Verleger gewandt und ihn inständig gebeten
habe, ihr Einsicht in die noch nicht erschienenen Teile des Romans zu gewähren. Wouter
van Oorschot, der sein Geld schließlich nicht als Sozialarbeiter verdient, mußte ihr
diese Bitte leider abschlagen; sie sei nicht die einzige sterbenskranke Voskuil-Leserin, die
wissen wolle, wie die Geschichte denn nun weitergehe.
Offenbar hat "Het Bureau" die Seelenlage einer ganzen Nation getroffen: jeder der
einzelnen Bände wurde von Presse, Funk und Fernsehen mit einer Flut von Rezensionen,
Interviews, Talkshows, Dokumentationen, und Reportagen begleitet - nicht immer
gleichermaßen positiv, aber doch stets zur Prime Time und auf mindestens einer Seite.
Ein Theaterstück nach Szenen aus dem Roman sorgt für volle Häuser, begeisterte Leser
widmen Voskuil Bücher, in denen sie seine Bureau-Geschichten fortspinnen. "Het
Bureau"-Reiseführer und organisierte Wallfahrten nach Amsterdam zum Hause des Autors
und der langjährigen Stätte seines beruflichen Schaffens gibt es sowieso schon längst.
Buchen kann man bei dem Theologen und Voskuil-Verehrer Erik van Halsema, dessen
Website http://huizen.dds.nl/~jdfvh/voskuil.html alles bietet, was das Herz des "Het
Bureau"- Lesers begehrt.
Für die überwiegende Mehrheit der Rezensenten - allen voran Arjan Peters und Elsbeth
Etty - ist "Het Bureau" bereits heute einer der ganz großen Romane nicht nur der
niederländischen, sondern der europäischen Literatur. Doch es gibt auch negative
Stimmen. So heißt es, Voskuil schreibe "Buchhalterprosa", sein literarisches
Ausdrucksvermögen sei erbärmlich und seine Sprache blutleer wie die Gespräche im
"Kaffeeraum". Sieht man sich jedoch das Ergebnis eines Leserwettbewerbs an, in dem die
Wochenzeitung "Vrij Nederland" dazu aufgefordert hatte, Vorschläge für das Ende des
Romans einzusenden, weiß man, daß keiner so mitreißend ein Bürogespräch schildern
kann wie Voskuil und daß kaum jemals Inhalt und Form eines Romans so sehr
zueinandergefunden haben wie in "Het Bureau".
Auch der bekannte Journalist Max Pam äußert seine Bedenken: "Einen Nobelpreis wird
Voskuil dafür nicht bekommen [...]. Übersetzen muß auch eine mühsame Angelegenheit
sein. ‘Het Bureau’ scheint mir ein Meisterwerk, das nur in Holland begriffen werden
kann." Nun, man überzeuge sich selber: auf der Voskuil-Website Erik van Halsemas
findet sich eine längere deutschsprachige Passage aus dem Roman. Und die Tatsache,
daß in deutschen Zeitungen bereits seit Jahren über jenes merkwürdige Phänomen "Het
Bureau" berichtet wird, zeigt, daß auch uns jene geistige Ödnis zwischen Büroklammer
und Papierkorb nicht ganz fremd ist, der Voskuil ein so wortgewaltiges Denkmal gesetzt
hat.
Gerd Busse
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