Eine Kostprobe aus dem Roman 'Das Büro' von J.J. Voskuil





J.J. Voskuil: Het Bureau. 1. Band: Meneer Beerta. Amsterdam: G.A. van Oorschot, 1996. 773 S.



1957



"Tag, Herr Beerta", sagte er.

Herr Beerta stand in der halbgeöffneten Tür und blickte ihn unbewegt an, so als ob sie ungelegen kämen. Dann spitzte er die Lippen und nickte kurz. "Tag, Maarten." Er zwinkerte, ein nervöser Tick.

"Das ist Nicolien", sagte Maarten.

Herr Beerta nickte ein weiteres Mal und reichte ihr die Hand. "T-tag, Frau Koning." Beim "T" stotterte er kurz. Er richtete sich auf, schien für einen kurzen Moment zu zögern und trat dann zur Seite.

"Kommt rein."

"Wir kommen doch nicht ungelegen?" fragte Maarten, während Beerta die Tür hinter ihnen schloß.

"Ihr kommt nicht ungelegen", antwortete Beerta kurz angebunden. "Ich gehe mal vor."

Beertas Zimmer wurde von einer Stehlampe mit einem großmustrigen, rotgeblümten Pergamentschirm sowie einer kleineren Lampe auf dem Kaminsims erleuchtet, deren roter Lampenschirm am unteren Rand mit Perlenschnüren umsäumt war. Im Lichtschein der Stehlampe standen ein Sessel und ein Hocker, auf dem eine aufgeschlagene Zeitung lag. Das Licht reichte bis zum unteren Rand der schweren, dunklen Vorhänge, die den Raum vom Fußboden bis zur Decke von der Außenwelt abtrennten. Die seitlichen Wänden sowie die Flächen beiderseits der Schiebetür standen voll mit Büchern, in tiefen, braunen Regalen, die ebenfalls bis zur Decke reichten und halb im Dunkeln lagen.

"Setzt Euch", sagte Beerta.

Sie setzten sich auf ein Sofa, das ein wenig schräg in einer Ecke des Raumes stand, während Beerta ihnen gegenüber in einem Sessel außerhalb des Lichtscheins Platz nahm. Von der Stelle, an der Maarten saß, konnte er im vorderen Zimmer einen großen Tisch erkennen, vollgestapelt mit Büchern, zwischen denen eine von einer Schreibtischlampe beleuchtete Schreibmaschine stand. In der Maschine steckte ein Blatt Papier, daneben lag ein aufgeschlagenes Buch.

"Waren Sie gerade am Arbeiten?" fragte er.

"Ich bin immer am Arbeiten", antwortete Beerta. Er sah Maarten unbewegt an. "Ich hab dich lange nicht gesehen." Es klang vorwurfsvoll.

"Wir haben ein Jahr in Groningen gewohnt", sagte Maarten. "Ich war dort Lehrer."

Beerta nickte. "Ich war auch Lehrer", erwiderte er, so, als wenn das die Sache damit besser machte. "Und was tust du jetzt?"

"Nichts."

"Nichts!" wiederholte Beerta. Er spitzte seine Lippen, halb erstaunt, halb ironisch. "Ich glaube, ich wäre darüber nicht so begeistert." Er stand auf. "Wollt ihr vielleicht noch eine Tasse Tee?"

"Ob es ihm paßt, daß wir hergekommen sind?" fragte Nicolien, als Beerta das Zimmer verlassen hatte.

"Natürlich paßt es ihm", sagte Maarten entschieden, aber er war sich seiner Sache nicht sicher. Er ließ seinen Blick über die große, eingerahmte Zeichnung eines Bauernjungens schweifen, ein Werk von Toorop oder von van Konijnenburg, betrachtete das Batiktuch, das dahinter über den Kaminsims drapiert war, sowie die dunklen Möbel und bestickten Kissen, die dem Raum etwas Unvergängliches gaben, ein Eindruck, der durch das langsame Ticken einer Pendeluhr im vorderen Zimmer noch verstärkt wurde. Es hing ein etwas drückender, leicht parfümierter Geruch im Raum, der ihn vage an das Zimmer seiner Großmutter erinnerte, in den letzten Jahren vor ihrem Tod.

"Von Klaas de Ruiter höre ich auch nichts mehr", sagte Beerta, als er wieder in den Raum kam. Vorsichtig hantierte er mit einer Teekanne, die in einem in den Farben Rosa, Braun und Blau gestrickten Kannenwärmer steckte und aus der nur der Griff und der Ausguß herausragten.

"Der ist auch Lehrer", sagte Maarten.

"Das weiß ich", entgegnete Beerta trocken. "Aber ist das ein Grund, mich nicht mehr zu besuchen?"

"Vielleicht hat er viel zu tun", wandte Nicolien ein. Sie lachte nervös.

"Wir haben alle viel zu tun", sagte Beerta und verzog dabei ironisch seine Mundwinkel, "außer Maarten natürlich. Möchtet ihr Milch und Zucker?"

Sie bekamen einen Keks aus einer alten Blechtrommel, deren Blümchenmuster bereits an mehreren Stellen verschlissen war.

"Und jetzt schreibst Du sicher an einer Doktorarbeit", sagte Beerta. Er sah Maarten forschend an, führte den Keks zum Mund und biß ein kleines Stück ab.

"Ich schreibe keine Doktorarbeit."

"Du schreibst keine Doktorarbeit?" Es klang erstaunt, doch Maarten hatte den Eindruck, hinter diesem Erstaunen auch ein wenig Ironie herauszuhören. "Ich dachte immer, das erste, was einer macht, wenn er mit seinem Studium fertig ist, ist das Schreiben einer Doktorarbeit."

"Aber Sie haben das doch auch nicht getan?"

Beerta lächelte. Nun trat die Ironie deutlich zutage. "Ich bin ein ganz schlechtes Beispiel. Ich würde es gar nicht gern sehen, wenn du mich zum Vorbild nehmen würdest."

Maarten lachte. "Ich hasse Leute, die eine Doktorarbeit nur wegen des Doktortitels schreiben. Wenn man etwas zu sagen hat, kann man das auch ohne Doktorarbeit tun. Und ich habe nichts zu sagen."

"Und was meint deine Frau dazu?"

"Ich finde, er hat recht", sagte Nicolien. "Ich würde nicht wollen, daß er eine Doktorarbeit schreibt." Sie lachte nervös.

Ihre Antwort überraschte Beerta sichtlich. Er zog seine Augenbrauen hoch und sah sie kurz an, bevor er sich wieder Maarten zuwandte. "Ich habe in meinem ganzen Leben noch keine einzige originelle Idee gehabt", sagte er mit Nachdruck. "Dennoch habe ich eine Doktorarbeit geschrieben, etwas spät zwar, und ich glaube auch nicht, daß sie jemand gelesen hat, außer meinem Doktorvater natürlich, aber ich danke unserem lieben Herrgott noch immer Tag für Tag, daß ich sie habe beenden dürfen."

Maarten lauschte amüsiert, ohne darauf einzugehen. Über sich hörte er Schritte und fragte sich, ob es Karel Ravelli sei. Er hatte, wie immer, den Eindruck, daß Beerta über seinen Besuch die ganze Welt an der Nase herumführen wollte. In seinen Augen war Beerta der lebende Beweis dafür, daß man sich soweit von der Außenwelt abschirmen konnte, daß man unangreifbar blieb. Das zog ihn an.

"Zu gegebener Zeit werde ich wohl wieder eine Arbeit annehmen müssen", antwortete er auf eine Frage Beertas, "aber ich glaube nicht, daß ich wieder Lehrer werde."

Beerta schien für einen Augenblick zu zögern. "Ich habe", sagte er, mit einer kurzen Kopfbewegung, um sein Stottern unter Kontrolle zu bringen, "eine Stelle für dich." Er sah ihn ernst an. "Wenn du willst, kannst du sie haben." Das Angebot überraschte Maarten.

"Ich kann für die Arbeiten am Atlas der Volkskultur einen wissenschaftlichen Beamten einstellen", sagte Beerta, langsam und präzise.

Maarten erinnerte sich vage, aus seiner Studienzeit, daß es sich dabei um eines der Projekte handelte, die Beerta schon vor dem Krieg ins Leben gerufen hatte. Danach war es dann auf die lange Bank geschoben worden, weil es zu sehr an das Interesse der Nazis für unser Volkstum erinnerte. Unter den Studenten wurde denn auch verächtlich darüber geredet. Nun, da Maarten selbst nach Arbeit suchte, sprach es ihn an. Wenn es noch irgendwo im niederländischen Wissenschaftssystem einen Winkel ohne auch nur den geringsten Anspruch auf irgend etwas gab, dann ließ er sich hier finden. "Ich könnte es versuchen", sagte er, ohne weiter nachzudenken.

Beerta nickte. "Dann solltest du noch mal darüber nachdenken und mich nächste Woche im Büro besuchen, um mir zu erzählen, warum du es versuchen willst."

Dieser Vorbehalt wirkte ernüchternd auf Maarten. Er bedauerte, auf das Angebot eingegangen zu sein und verspürte für einen Augenblick den Drang, seine Worte wieder zurückzunehmen. Unglücklich hörte er Beerta zu, der sich Nicolien zugewandt hatte, und registrierte ihre Antworten, ohne daß die Bedeutung ihrer Worte zu ihm durchdrang. Erst als Beerta den Genever brachte, kam er allmählich wieder zu sich. Als sie, sehr viel später, das Haus verließen, wußte er zwar noch, daß irgend etwas Unangenehmes gesagt worden war, aber was genau, wußte er nicht mehr.

"Nennen Sie mich ruhig Nicolien", sagte sie, als Beerta sie erneut mit "Frau Koning" ansprach.

"Tag, Nicolien", sagte Beerta feierlich. "Ich hoffe, daß ich euch bald einmal wiedersehe", er machte eine kurze Pause, "wenn Maarten erst einmal im Büro ist."



"Warum hast du bloß gesagt, daß du es tun willst?" fragte sie, nachdem sie die erste Seitenstraße überquert hatten.

"Ich muß doch eine Arbeit haben?" antwortete er verstimmt.

"Aber doch nicht unbedingt in der Wissenschaft?"

"Was macht das schon aus, ob man in der Wissenschaft arbeitet oder woanders."

"Ich dachte, du könntest Wissenschaft nicht ausstehen."

"Nein, nur Wissenschaftler, die ihren Status daraus ableiten! Die glauben, daß es von Bedeutung ist!"

"Du brauchst nicht so zu schreien!"

Er bezwang sich. "Ich schreie nicht." Er fühlte sich durch ihre Worte in die Enge getrieben und sah keinen Ausweg.

"Ich habe dich doch nur etwas gefragt!"

"Was soll ich sonst tun? Wieder Lehrer werden?"

"Es wird ja wohl auch noch etwas anderes geben."

"Was denn?"

"Jetzt schreist du schon wieder!"

"Was denn?" wiederholte er, übertrieben ruhig. "Wir haben jetzt doch wohl gesehen, daß ich das nicht kann, Leute um Arbeit zu bitten und die Hand aufzuhalten."

"Und wenn ich mir wieder Arbeit suche?"

"Für dich ist das noch schlimmer als für mich."

Sie blieb darauf die Antwort schuldig. Dies gab ihm Sicherheit, genug, um seine Gedanken zu ordnen. "Beerta nimmt es selber auch nicht ernst", sagte er. "Er kann jedenfalls relativieren. Und sein Büro genießt keinerlei Ansehen. Alle finden es nur lächerlich."

"Warum existiert es dann?"

"Weil er Grips hat", sagte er überzeugt. "Er tut gerade soviel, um sich zu behaupten. Und was einmal da ist, wird so schnell nicht wieder abgeschafft." Er blickte zur Seite, weil sie nicht reagierte. "Wenn es mir nicht gefällt, kann ich es doch wieder aufgeben? Ich habe doch auch das Lehrerdasein aufgegeben?"

"Ja", sagte sie zögernd.



*



Er kannte das Büro durch ein Praktikum während seines Studiums. Es befand sich im Hof des Zentralinstituts, dem es auch organisatorisch angehörte, und bestand aus drei Räumen. Beerta saß im hinteren Raum, der in zwei Hälften geteilt war; ihm gehörte die Hälfte, die zum Hof hin lag. Das Mobiliar bestand aus einem außergewöhnlich großen Schreibtisch mit einem Aufsatz, der vor langer Zeit einmal einem berühmten Sprachwissenschaftler gehört hatte, einer Sitzgruppe aus drei Stühlen sowie aus einem langen Tisch, der zum größten Teil mit Stapeln von Büchern und Papieren bedeckt war. An den drei Wänden waren Bücherregale angebracht. Die Tür befand sich in der Fensterecke und enthielt in der oberen Hälfte sechs Fenster, deren beiden untersten an der Außenseite mit einem rosafarbenen Vorhang verhängt waren, so daß Beerta keine Einsicht in den mittleren Raum nehmen konnte, in dem sich Fräulein Haan und der Zeichner ihr Büro teilten. Im ersten Raum war der Rest des Personals untergebracht, abgesehen vom Hausmeister, der in einer Portiersloge am Anfang des Flurs, bei der Eingangstür, saß. Er stand auf der Schwelle seines kleinen Verschlags, als Maarten die Tür aufstieß und den Flur betrat.

"Tag, Herr de Bruin", sagte Maarten

"So, der Koning", antwortete der Mann erfreut in plattestem Amsterdamer Dialekt. "Junge, das ist lange her."

Es überraschte Maarten, daß man ihn wiedererkannte und er offenbar immer noch dazugehörte. "Verdammt lange", sagte er mit einem Lächeln. "Ich bin mit Herrn Beerta verabredet."

"Und wie geht's deinem Vater?" fragte de Bruin vertraulich, während sie sich durch den langen Flur zu Beertas Büro begaben, denn ebenso wie sein Vater war auch de Bruin ein alter Sozialist. Das schuf ein Band, von dem Maarten in diesem Fall profitierte. Außerdem war de Bruin ein reinrassiger Amsterdamer, was ihm in den Augen Maartens die Überlegenheit eines Mannes verlieh, der hier zu Hause ist. Er ging voran, betrat den ersten Raum, wo Maarten im Vorbeigehen zwischen den Leuten, die dort an den Schreibtischen saßen, auf den ersten Blick kein bekanntes Gesicht entdecken konnte. Den Zeichner in seinem weißen Kittel, der im mittleren Raum auf einem hohen Hocker hinter seinem Zeichenbrett am Fenster saß, erkannte er jedoch sofort und dieser ihn ebenfalls.

"Ha, der Koning!" rief er, eine Spur zu laut. "Schaust du auch mal wieder vorbei?" Er begann wiehernd zu lachen, ein verkrampftes Lachen, bei dem sein Gesicht für einige Augenblicke zu einer Grimasse erstarrte, und streckte die Hand aus.

Maarten lächelte reserviert. Der Mann irritierte ihn. "Tag, Herr van Ieperen", sagte er und drückte ihm die Hand.

De Bruin hatte inzwischen die letzte Tür geöffnet, nachdem er zuerst angeklopft hatte. "Herr Beerta, hier ist der Herr Koning."

"Laß Herrn Koning nur eintreten", hörte er Beerta aus der Ferne antworten. Nach der flachen, tonlosen Stimme de Bruins klang die von Beerta äußerst nuanciert und ein wenig feminin. Er stand neben seinem Stuhl, als Maarten den Raum betrat, kam ihm mit steifen Bewegungen entgegen und reichte ihm die Hand. "Setz dich", sagte er ernst, mit einem Nicken in Richtung der Sitzgruppe.

Sie setzten sich an den kleinen runden Tisch, beide mit einem Bücherregal im Rücken.

"Möchtest du rauchen?"

"Vielen Dank", sagte Maarten.

Sie schwiegen einige Augenblicke. Beerta sah ihn unbewegt und ein wenig ironisch an. Er verzog den Mund und spitzte die Lippen. "Und, weißt du schon, weshalb du hier arbeiten willst?"

"In erster Linie, weil es keinen Anspruch auf irgend etwas erhebt."

Seine Antwort überraschte Beerta. Er zog die Augenbrauen hoch. "Das bedeutet doch hoffentlich nicht, daß du dir hier kein Bein ausreißen willst?" Er stotterte kurz.

"Nein, so war das nicht gemeint."

Beerta sah ihn prüfend an, so als ob er den Gehalt dieser Antwort bestimmen wollte.

Maarten lächelte schuldbewußt. "Ich werde meine Sache so gut machen, wie es mir möglich ist. So wie ein Tischler einen Schrank macht."

"Und was spricht dich dann so besonders darin an? Denn ein Schrank ist es nicht."

"Das weiß ich natürlich noch nicht, aber wenn es das ist, was ich denke, dann interessiere ich mich vor allem für die Frage, warum Menschen diese Dinge glauben und tun, also für die Psychologie."

Beerta nickte. "Das hat mich auch immer interessiert." Es klang aufrichtig, doch wie bei so vielem, was Beerta sagte, hatte Maarten zugleich das Gefühl, daß es sich um nicht mehr als einen Schritt in einem rituellen Tanz handelte. Das amüsierte ihn.

Sie schwiegen eine Weile.

"Hast du schon darüber nachgedacht, was du verdienen möchtest?"

Die Frage durchbrach die Vertraulichkeit. "Das weiß ich nicht", wehrte er ab. "Das sollten Sie einfach bestimmen."

Beerta nickte bedächtig. "Ich werde der Kommission vorschlagen, dich einzustellen."

Auf dem Rückweg traf Maarten im ersten Raum auf Kurt Wiegel, den Bibliothekar. Er kannte ihn noch aus seiner Studienzeit.

"He, was machst du denn hier?" fragte Wiegel erstaunt. Es klang nicht besonders freundlich. Auch früher schon hatte er Maarten ein Gefühl vermittelt, als ob dieser ihm ein unverzeihliches Unrecht zugefügt hatte.

"Ich werde hier vielleicht arbeiten", antwortete Maarten. Er bemerkte, daß ein älterer Mann, der hinter Wiegel an einem Schreibtisch saß und arbeitete, den Kopf hob und ihn ansah.

"Das ist nicht dein Ernst", sagte Wiegel, ohne eine Spur von Freude. "Komm eben mit." Er ging mit kleinen, stolzierenden Schritten voran, in den hinteren Teil des Raumes, der hinter einem Bücherregal verborgen lag, das den Raum teilte. Seine Art zu gehen erinnerte an die von Beerta, und unter den Studenten ging man davon aus, daß es einst als Imitation angefangen hatte, wie so vieles bei Wiegel, der ein Meister im Imitieren war. "Kennst du Herrn Veerman?" fragte er mit einer Kopfbewegung hin zu einem dicken Mann, der, ihnen mit dem Rücken zugewandt, vor einer Reihe von Registraturschränken saß und damit beschäftigt war, Zeitungsausschnitte einzusortieren.

"Ach, Herr Wiegel", sagte der Mann, ohne Maarten zu beachten. "Hier habe ich so einen merkwürdigen Ausschnitt, man könnte sogar sagen, einen sehr merkwürdigen." Mühsam richtete er sich aus seiner hockenden Stellung auf und reichte Wiegel einen Ausschnitt. Sein Kopf war feuerrot. Darunter trug er ein ebenfalls rotes Oberhemd, das am Hals offenstand, sowie eine weite, unförmige Hose.

"Gleich, Herr Veerman", wehrte Wiegel ab, "ich habe gerade Besuch." Er schob einen Stuhl an seinen Schreibtisch. "Setz dich", forderte er Maarten auf. "Hätte dir nicht etwas Besseres einfallen können?"

"Nein", antwortete Maarten. Weil er nie wußte, was dieser Mann wirklich meinte und wann er einen Scherz machte, fühlte er sich in seiner Gegenwart unbehaglich.

Wiegel lachte freudlos. "Der eine weiß nicht, wie er hier wegkommen soll, und der andere kommt hier freiwillig zum Arbeiten her. Gab es keine Stelle an der Universität?"

"Ich möchte nicht mal daran denken." Hinter sich hörte er Veerman herumkramen und stöhnen. Sollte er tatsächlich eingestellt werden, dann wollte er lieber nicht in dieser Ecke arbeiten müssen.

"Oder Lehrer", fuhr Wiegel fort.

"Du bist doch auch Lehrer gewesen und hast es aufgegeben?"

Wiegel lachte. "Kennst du die Geschichte von dem Lehrer aus Makkum?"

Maarten schüttelte den Kopf.

"Schade, ich auch nicht." Der Scherz bereitete ihm einen Heidenspaß, doch plötzlich wurde er ernst. "Aber im Ernst. Es läßt sich hier aushalten. Zumindest, wenn du Sinn für Humor hast."



Nicolien war am Staubsaugen. Als er das Haus betrat, schaute sie auf und schaltete mit ihrem Fuß den Staubsauger aus. "Und, wie war es?"

"Er wird es der Kommission vorschlagen." Er lächelte schuldbewußt.

"Aber hat er denn nichts gefragt?"

"Ich glaube, ihm wäre jede Antwort recht gewesen.

"Aber du hast ihm doch sicher gesagt, daß du die Wissenschaft verabscheust?"

"Ich habe gesagt, es würde mich ansprechen, daß diese Arbeit keinen Anspruch auf irgend etwas erhebt." Er hatte den Eindruck, daß diese Antwort sie nur halb zufriedenstellte, doch sie sagte nichts. Sie brachte den Staubsauer weg und ging in die Küche, um Kaffee zu machen. Er setzte sich auf den Diwan und blickte vor sich hin. Er fühlte sich leer und vielleicht auch ein wenig bedroht, er konnte es nicht eindeutig bestimmen. Unsinn, dachte er mißmutig, ebensogut könnte man damit zufrieden sein. Er schaute hoch. Sie kam mit dem Kaffee ins Zimmer. "Warum weinst du?" fragte er verstimmt.

"Ich weine nicht", antwortete sie mit erstickter Stimme. Die Tränen liefen ihr über die Wangen.

"Und ob du weinst."

"Ich hatte so gehofft, du würdest es nicht tun. Ich fand es so schön, zusammen mit dir."

Es rührte ihn. Er hockte sich neben ihren Stuhl und ergriff ihre Hand. "Aber jeder hat doch eine Stelle?" Er schüttelte ihre Hand, die schlaff in der seinen hing. "Aber Knöllchen! Jeder hat doch eine Stelle!"

"Bis auf uns", sagte sie schniefend. "Gib mir mal dein Taschentuch."

Er reichte ihr sein Taschentuch und wartete, während sie sich die Nase schneuzte. "Und arbeiten ist doch ein Kompromiß?" sagte sie. "Du hast es selbst gesagt."

"Aber ich habe nie gesagt, daß ich diesen Kompromiß nicht schließen würde."

"Das habe ich aber gehofft! Ich habe gehofft, daß wir für immer zusammenbleiben und gemeinsam sterben würden." Sie begann laut zu schluchzen.

Er lachte, weil es so pathetisch klang. "Das können wir doch immer noch."

Sie schüttelte den Kopf. "Nein! Nicht, wenn du den ganzen Tag auf der Arbeit bist! Ich fand es schrecklich, als du Lehrer warst! Ich war so froh, als du gekündigt hast und wir wieder nach Amsterdam zurückgegangen sind."

Er kämpfte seine Rührung nieder, stand auf und nahm wieder auf dem Diwan Platz. "Man muß nun einmal Geld verdienen. Und immer wieder eine andere Stelle, das kann ich nicht. Das hat sich doch jetzt gezeigt. Außerdem kann ich jederzeit wieder kündigen." Es klang nicht sehr logisch. Er war auch nicht in der Lage, logisch zu denken.

"Du bist lieb." Sie streckte ihre Hand aus. "Vergiß es, es war nicht fair. Natürlich mußt du eine Arbeit annehmen. Ich kann es nur nicht ertragen, daß unser Leben zu Ende sein könnte."

"Aber unser Leben ist doch nicht beendet?" sagte er lachend.

"Du verstehst schon, was ich meine." Es irritierte sie, daß er sie nicht verstehen wollte. "Natürlich das Leben, das wir jetzt führen."

Er verstand, doch der Gedanke beängstigte ihn so sehr, daß er ihn gar nicht erst aufkommen lassen wollte.



*



Zwei Wochen später kam ein Brief vom Büro, adressiert an Herrn M. Koning. Sein Text lautete: Ich habe die Ehre Ihnen die gestrige Entscheidung der Kommission mitzuteilen, wonach Sie zum 1. Juli d.J. zum wissenschaftlichen Beamten im unteren Rang berufen werden. Über eine kurze Mitteilung, ob Sie die Stelle annehmen, würde ich mich freuen. Der Schriftführer der Kommission, A.P. Beerta.

Vielleicht hätte Maarten der förmliche Charakter des Briefes erschreckt, wenn ihm nicht sofort aufgefallen wäre, daß Beerta bei Maartens und bei seinem eigenen Namen die Titulatur weggelassen hatte, als ob er ihm damit zuzwinkern wollte. Außerdem befand sich im Umschlag ein zweiter Brief, der jede Spur eines Mißtrauens beseitigte: Lieber Maarten, nach dem offiziellen Brief, den ich Dir schrieb, möchte ich dir etwas weniger formell in kurzen Worten sagen, das es für mich eine sehr angenehme Vorstellung ist, das du deinen 31sten Geburtstag auf unserem Büro feiern wirst. Ich gehe am kommenden Samstagmorgen in die Ferien und werde ungefähr einen Monat wegbleiben, doch ich freue mich schon darauf, dich an deinem ersten Arbeitstag begrüßen zu dürfen. Ich hoffe, es wird dir gefallen. Bis dahin verbleibe ich mit herzlichen Grüßen, auch an deine Frau, Dein A.P. Beerta.

"Er scheint den Unterschied zwischen daß und das nicht zu kennen", sagte Nicolien verwundert, als sie den Brief gelesen hatte. "Das hätte ich nicht von Herrn Beerta erwartet."

Maarten wunderte es ebenfalls, aber er fand es menschlich. Es verriet eine Nonchalance, die seinen Eindruck, daß es zwei Beertas gäbe, noch verstärkte.



*




[über die Fragebögen, die alljährlich ins Land geschickt werden und deren Ergebnisse eine der wichtigsten Grundlagen der volkskundlichen Forschungen des Büros bilden, S. 66 f.]

"Hast du noch über den neuen Fragebogen nachgedacht?" fragte Beerta.

"Ja." Er stand auf und überreichte Beerta einige lose Blätter. "Hieraus kann man eine Auswahl treffen."

Beerta erhob sich ebenfalls. Neben seinem Schreibtisch stehend sah er sich das Papier an, während Maarten auf sein Urteil wartete.

"Warum über Volksheilkunde?" fragte Beerta und blickte auf.

"Das haben Sie selbst gesagt."

Beerta hob seine Augenbrauen. "Habe ich das selbst gesagt? Ich werde alt." Er schlug die Blattseiten um und sah sie sich noch einmal insgesamt an.

"Hier steht beispielsweise Sch-stottern. Ich wußte gar nicht, daß sich dagegen etwas machen läßt?"

"Unter den Füßen kitzeln." Er kostete ihn Mühe, sein Lachen zu unterdrücken. Beerta nickte würdevoll. "Aha." Er gab ihm die Papiere zurück. "D-dann lieber sch-stottern." Er wandte sich ab und setzte sich wieder hin.

"Was soll nun damit geschehen?"

"Triff selbst eine Auswahl. Solange es nur nicht um S-sexualität geht. Fräulein Haan will ständig Fragen über S-sexualität stellen. Ich bin dagegen. Wir müssen auf die Nonnen Rücksicht nehmen."

"Welche Nonnen?"

"Die Nonnen, die unsere Fragebögen ausfüllen", sagte Beerta. "Die wissen nicht mal, daß es überhaupt so etwas wie S-sexualität gibt."



*




[über Wissenschaft, S. 333 f.]

(1960)



"Hendrik findet, daß Wissenschaft Quatsch ist", sagte Maarten lachend zu Nicolien.

"Nun!" entgegnete Ansing. "Das geht jetzt doch ein bißchen weit!"

"Aber es ist doch Quatsch?" sagte Maarten. "Es ist doch idiotisch, daß zehn Leute, davon die Hälfte mit einem großzügigen Gehalt, Beertas Hobbys pflegen. Das ist so, als ob man zu zehnt für jemand anderen Briefmarken sammelt. Ich sehe keinen Unterschied, außer, daß man dafür nicht bezahlt werden würde."

Es war deutlich, daß diese Sicht auf die Wissenschaft für Ansing neu war. "Ich glaube, wenn ich so darüber dächte, würde ich mir eine andere Stelle suchen."

"Und wenn es nun keine andere Stelle gibt? Denn es trifft auf jede Stelle in unserem Fach zu. Die Sache ist die, daß wir schlicht und ergreifend mit einem Haufen überschüssigen Intellekts dasitzen: Söhnchen von Pastoren, Lehrern, Journalisten und Beamten, die alle zu zart gebaut sind, um eine Schippe in die Hand zu nehmen, aber von der Straße gehalten werden müssen, weil sie sonst anfangen, Schwierigkeiten zu machen oder verrückt würden." Er lachte. "Ich meine, was ich sage. Das erklärt auch die endlosen, blutleeren Spezialisierungen in unserem Fach: es gibt immer mehr von diesen Schwächlingen, die darauf warten, untergebracht zu werden."

"Ich fühle mich eigentlich nicht wie ein Schwächling", sagte Ansing.

Maarten lachte. Er trank langsam von seinem Schnaps. "Es ist natürlich alles noch viel schmieriger", sagte er nachdenklich. "Warum gibt es auf so einem Büro fast keine Frauen? Warum stellt jemand wie Beerta immer nur junge Burschen an? Wenn man richtig darüber nachdenkt, ist die Wissenschaft doch nichts anderes als ein einziges großes, von der Gesellschaft finanziertes Bordell, und nicht nur die Wissenschaft, sondern auch der ganze Beamtenapparat." Der Gedanke belustigte ihn. Er erinnerte sich an das Telefongespräch mit 't Mannetje an einem der ersten Tage auf dem Büro."Nichts als ein einziger großer Ackerwagenverein."

"Du willst doch wohl nicht sagen, daß Beerta homosexuell ist?" fragte Ansing.

Maarten sah ihn erstaunt an. "Natürlich ist er homosexuell. Er wohnt doch auch mit Ravelli zusammen?"




[im Büro, S. 653 ff.]

(1964)



*



"Tag, Herr Koning", sagte Ad Muller.

"Tag, Ad", antwortete Maarten, ohne sich umzudrehen. Obwohl er sich damit abgefunden hatte, daß er mit Herr Koning angeredet wurde, gab es ihm doch jedesmal wieder ein unbehagliches Gefühl und hemmte ihn im Umgang mit seinen studentischen Hilfskräften. Daß er dem selbst ein Ende bereiten konnte, wurde ihm zwar klar, sobald er wieder allein war, doch in ihrem Beisein genierte er sich, diesen Schritt zu tun und sagte sich dann, so wie auch jetzt wieder, daß er damit dann zuallererst bei Bart Asjes anfangen müßte.

Ad Muller setzte einen Karteikasten auf die Ecke von Maartens Schreibtisch, zog einen Stuhl zu sich heran und begann, die Karteikarten einzustecken. Maarten saß an dem Tisch in der Mitte, hinter seiner Schreibmaschine. Um ihn herum lagen die letzte Karte der zweiten Folge des Atlasses, eine topographische Karte Nordost-Groningens, eine Bodenkarte, ein historischer Atlas sowie eine Reihe von Büchern über die Agrargeschichte der Moorkolonien und Westerwoldes. In seiner Schreibmaschine steckte ein Blatt mit der Rohfassung eines Textes, voll mit Durchstreichungen und Ergänzungen zwischen den Zeilen und am Rand. Während Ad Muller die Karteikarten einsteckte, versuchte er sich zu konzentrieren, doch die Geräusche der Schubfächer, die herein- und herausgeschoben wurden, das Umlegen der Karteikarten und das dumpfe Klacken, mit dem die neue Karte ihren Platz fand, lenkten ihn ab. Überdies drang es ihm vage ins Bewußtsein, daß Ad Muller einen etwas dumpfen, muffigen Geruch um sich herum verbreitete, den Geruch eines Menschen, der sich nicht allzuoft wäscht. Ohne nachzudenken, stand er auf, machte das Fenster noch ein Stück weiter auf, setzte sich wieder und schaute erneut auf sein Papier, doch die Anwesenheit eines Fremden in seinem Zimmer hinderten ihn daran, seine Gedanken zu ordnen. Er zog die Karte zu sich heran und betrachtete die Grenze, die er darauf eingezeichnet hatte. Im Nebenzimmer, hinter dem Bücherregal, hörte er die Schreibmaschinen von Heidi Bruul und Kees Stoutjesdijk, und an der anderen Seite die Stimme Fräulein Haans, die gerade telefonierte. Er las noch einmal die letzten Sätze, die er geschrieben hatte, drehte das Blatt zurück, überschrieb ein Wort, ersetzte es durch ein anderes und drehte das Blatt wieder zu der Stelle, an der er steckengeblieben war. Er legte seine Hände auf die Knie und wiegte sich unwillkürlich etwas vor und zurück, als ob er so seine Gedanken dazu zwingen konnte, zurückzukehren.

Ad Muller hatte seine Arbeit beendet. Er stand auf, schob den Stuhl zurück, blieb mit dem leeren Kasten in seinen Händen an Maartens Tisch stehen und blickte neugierig auf die Karten und Bücher. "Darf ich Sie auch mal fragen, womit Sie gerade beschäftigt sind?"

Die Frage überraschte Maarten. "Ja, natürlich."

Ad Muller kam einen Schritt näher und blieb neben ihm stehen.

Maarten zog den Stuhl neben sich unter dem Tisch hervor. "Dann setz dich mal hier hin."

Ad Muller setzte sich, dicht neben Maarten, und studierte aufmerksam die Karte. Für Maarten lag in dieser Aufmerksamkeit etwas Beunruhigendes, doch er unterdrückte dieses Gefühl ebenso wie seine Abscheu vor der allzu körperlichen Anwesenheit dieses fremden jungen Mannes so dicht neben sich. "Ja", sagte er zögernd, er sah auf die Karte, "wie soll ich das jetzt erklären?"

"Heidi hat mir schon ein bißchen darüber erzählt. Sie suchen Kulturgrenzen, haben aber erst zwei gefunden."

Maarten lachte. "Ja, aber das ist nur die eine Hälfte der Arbeit." Er blickte auf die Karte.

"Ist das hier eine solche Karte?" Er beugte sich vor, mit den Händen auf seinen Knien, als ob er die Karte in ihrer Gänze in sich aufnehmen wollte.

"Das ist eine Karte des Kornschrecks. Wenn Eltern ihren Kindern verbieten, im Korn zu spielen, drohen sie damit."

"Und ist da auch eine Kulturgrenze drauf?" Er suchte die Karte ab.

"Hier!" Maarten zog die Karte zu sich heran und zeigte auf ein kleines Gebiet im äußersten Nordosten, wo ein und dasselbe Zeichen gleich mehrfach auftauchte. "Dort drohen sie mit der Roggenmutter, und das tun sie nirgendwo anders."

"Sie haben also jetzt drei?"

"Ja", er lachte, "aber darum geht es eigentlich nicht. Es geht darum, wie man sich das erklären muß." Er zögerte, es war das erste Mal, daß er jemandem begreiflich machen mußte, was er tat, und es war ihm peinlich, so als ob er sich eine Blöße gab. "Es gibt die Theorie, wonach es sich bei der Roggenmutter ursprünglich um einen Korngeist handelte, der in die Kinderwelt hinabgesunken ist, und die Kritik daran behauptet, daß es niemals mehr als ein Scherz war, den Eltern ihren Kindern gegenüber machten. Die Frage ist, wer recht hat."

"Und wer hat recht?" Er sah Maarten mit einem derart treuherzigen, ungeheuchelten Interesse an, daß Maarten den aufkommenden Gedanken, zum Narren gehalten zu werden, sofort wieder verwarf.

"Das weiß ich nicht. Ich fürchte, daß es sich nicht sagen läßt, aber es ist schon merkwürdig, denn auch wenn es sich um einen Scherz handelt, stellt sich die Frage, warum dieser Scherz ausschließlich dort vorkommt. Wenn man die Angaben auf eine Bodenkarte überträgt", er suchte zwischen seinen Papieren und zog die Skizze einer Bodenkarte darunter hervor, in die er außer den Bodentypen auch die Daten über die Roggenmutter eingezeichnet hatte, " sieht man nämlich, daß nur Eltern, die auf Sandboden leben, diesen Scherz machen, nicht aber Eltern, die im Moor wohnen, obwohl sie dort ebenfalls Roggen anbauen.

"Komisch, nicht?"

"Ja, komisch", sagte Maarten lachend.

"Und wie erklären Sie sich das jetzt?" Er blickte ihn mit großen, naiven Augen an. Die Naivität, mit der der junge Mann ihn ansah, ließ Maartens aufkommenden Argwohn erneut schwinden. "Ich glaube..." Er brach den Satz ab und fing von vorne an. "Auf alle Fälle kann die Roggenmutter nicht älter sein als der Roggen selbst, und der ist erst zu Beginn unserer Zeitrechnung hierhergekommen. Von diesem Moment an kann also auf Sandboden Roggen angebaut worden sein. Im Moor ist dies erst ab dem 15. Jahrhundert möglich gewesen, als das Land dort allmählich trockengelegt wurde. Geht man nun davon aus, daß das Moor von Menschen urbar gemacht worden ist, die von anderswo herkamen, und geht man ebenfalls davon aus, daß die Roggenmutter auf dem Sandboden ihre Vitalität verloren hatte, so daß sie sich nicht mehr weiter verbreitete - beispielsweise, weil sie bereits in die Kinderwelt hinabgesunken war -, dann ist es möglich, daß es im Frühmittelalter ein Korngeist gewesen ist, aber beweisen läßt sich nichts."

"Das ist also Ihre Schlußfolgerung?"

"Ja, mehr kann ich auch nicht daraus machen."

"Ich glaube, daß ich dann doch lieber am Karteisystem arbeite."

"Das war auch der Grund, weshalb ich damit angefangen habe."

"O ja?" fragte der junge Mann erstaunt.

"Angefangen habe ich mit den Wichtelmännchen. In den Aufsätzen, die ich darüber las, verstand ich nichts - und ich verstehe noch immer nichts." Er lachte. "Ich habe noch nie einen Aufsatz über diese Dinge gelesen, von dem ich auch nur ein Wort verstehe. Und wenn ich etwas nicht verstehe, fange ich an, Karteikarten anzulegen, in der Hoffnung, daß ich es dann doch irgendwann verstehe."

"O ja?" Er sah Maarten an, als ob er so etwas noch nie gehört hatte.

"Ja. Wenn der Minister hier hereinkäme und sagen würde: Herr Koning, was tun Sie hier eigentlich? müßte ich ihm sagen: Nichts, Exzellenz! Meine Arbeit ist vollkommen sinnlos und ohne jeden Wert." Er genoß ein stilles Vergnügen angesichts seiner eigenen Worte. "Aber der Minister hat keine Zeit dafür."

"Und Herr Beerta?"

"Für Herrn Beerta ist alles in Ordnung, solange ich nur den Schein wahre."

Der junge Mann sah ihn ungläubig an.

"Sozusagen", korrigierte Maarten sich. Einen Augenblick lang saßen sie schweigend beisammen. Der junge Mann betrachtete die Karte, Maarten den Text in seiner Schreibmaschine.

"Und darf ich Sie noch etwas fragen?" fragte der junge Mann.

"Ja klar."

"Was tut Herr Asjes eigentlich hier?"

"Bart? Bart kommt hier ab und zu wegen des Ausschnittarchivs her, und wenn er sein Studium beendet hat, wird er hier vielleicht arbeiten."

"Und Herr Slofstra, arbeitet der auch für Sie?"

"Slofstra tippt Register ab, auch für das Karteisystem. Wann bist du mit dem Studium fertig?"

"Ich hoffe, nächstes Jahr."

"Und was machst du dann?"

"Ich werde wohl Lehrer werden."

Maarten nickte. "Das war ich auch."

"Und das gefiel Ihnen nicht?"

"Nein, das ist noch schlimmer. Aber dir gefällt es ja vielleicht."

In diesem Moment ging die Tür auf und de Gruiter kam herein. Etwas kurzsichtig sah er sich im Zimmer um.

"Suchen Sie etwas?" fragte Maarten.

Ad Muller stand auf. "Dann gehe ich mal wieder."

"Ich suche eigentlich Herrn Beerta", sagte de Gruiter.

"Herr Beerta ist in Arnheim."

"Dankeschön." Er verließ den Raum, zusammen mit Ad Muller.

Maarten blickte auf den Text in seiner Schreibmaschine und versuchte sich wieder zu konzentrieren, doch das Gespräch hatte ihn unruhig gemacht. Er stand auf, griff zu seiner Milchflasche und verließ das Zimmer. Fräulein Haan war verschwunden. Van Ieperen stand hinter seinem Zeichenbrett. Am Mitteltisch saß Frau Moederman und war damit beschäftigt, einen Stapel Fragebögen in einen Karton zu packen.

"Ha, die Volkskultur!" sagte van Ieperen. Er blähte seine Backen auf und zog eine Grimasse.

Maarten lächelte vage.

"Mit dem deutschen Atlas sind sie schon ein ganzes Stück weiter, nicht? sagte van Ieperen. "Dagegen sind wir ein Nichts!" Er kicherte.

"Dagegen sind wir ein Nichts", gab Maarten zu.

"Und das holt man auch nicht mehr ein!"

"Ich fürchte, nein."

"Dann müssen Sie doch mal etwas dagegen unternehmen, Herr Koning", sagte Frau Moederman und sah hoch.

"Warum?" fragte Maarten. Er blieb an ihrem Tisch stehen und lächelte.

"Das müssen Sie doch einholen?"

"Darf ich Ihnen einmal etwas verraten?" sagte Maarten vertraulich. "Der ganze Atlas interessiert mich einen Dreck! Ich lasse es, wie es ist."

"Und Herrn van Ieperen erzählen Sie genau das Gegenteil!"

"Weil ich keine Lust habe, Scherereien mit ihm zu kriegen", erläuterte Maarten. "Ich rede ihm nach dem Mund, dann bin ich ihn los."

Van Ieperen kicherte unsicher, während Maarten seinen Weg fortsetzte. Als er mit einer vollen Milchflasche zurückkehrte und sein Zimmer betrat, kam van Ieperen hinter ihm her. Er blieb beim Tisch stehen, während Maarten hinter seiner Schreibmaschine Platz nahm. "Da hatte sie uns eben schön am Wickel, was?" sagte er kichernd und zuckte dabei die Achseln. "Ich habe ihr darauf nur gesagt: Das sagt er jetzt zwar knallhart, aber er meint es nicht so." Er machte eine Bewegung in Richtung der Tür. "Sonst geht es geradewegs zu Dientje Haan und von da aus nach oben.

"Das ist mir egal", sagte Maarten, seinen Widerwillen unterdrückend.

"Ja, natürlich", beeilte sich van Ieperen zu sagen, "aber es ist doch besser so."

Maarten reagierte nicht darauf. Er sah erneut auf das Papier in seiner Schreibmaschine und hob die Hände, um weiterzutippen.

"Laß mal sehen", sagte van Ieperen. "Hatte ich noch was, was ich sagen wollte. Nein, oder?

Er sah Maarten an. Als dieser keine Antwort gab, wandte er sich ab und verließ mit tapsigen Schritten den Raum.

*




[eine typische Auseinandersetzung zwischen Maarten und seiner Frau Nicolien, S. 714]

(1964)



*



"Aber du brauchst doch niemanden zusätzlich einzustellen?" sagte Nicolien.

"Du kannst doch für dich alleine bleiben? Ich verstehe nicht, warum du das tust. Es ist doch alles andere als schön, jemanden neben sich sitzen zu haben, den man am Arbeiten halten muß? Was fängst du da nur an?"

"Ich brauche ihn nicht an der Arbeit zu halten. Es geht darum, daß er mir Arbeit abnehmen soll. Man stelle sich vor, daß ich ihn an der Arbeit halten müßte. Das wäre natürlich idiotisch."

"Aber warum muß er dir denn Arbeit abnehmen? Es ist doch sowie Unsinn, was du machst?"

"Ja, es ist auch Unsinn."

"Warum muß er dir dann Arbeit abnehmen? Wenn es sowieso Unsinn ist, braucht dir die Arbeit doch nicht abgenommen zu werden?"

"Das ist doch Quatsch", sagte er verstimmt. "Es ist zwar Unsinn, was ich tue, aber nichtsdestotrotz bin ich dafür verantwortlich, daß es gemacht wird."

"Nun, dann wird eben etwas weniger gemacht."

"Das geht nicht!"

"Warum geht das nicht?"

"Weil es nun einmal nicht geht! Wenn Balk und Fräulein Haan ihre Abteilung ausdehnen, dann muß ich meine Abteilung auch ausdehnen!"

"Na, das ist ja ein Ding!" sagte sie entrüstet. "Wenn die in einem großen Haus wohnen möchten, dann mußt du sicher auch in einem großen Haus wohnen. Nein, ich wohne zwar lieber in einem kleinen Haus, aber ich muß nun einmal in einem großen Haus wohnen, weil sie ebenfalls in einem großen Haus wohnen! Das ist doch wohl lächerlich! Es kann dir doch egal sein, was Balk und Fräulein Haan tun? Dir sind solche Leute doch zuwider?"

"Mir ist das tatsächlich egal!" fuhr er sie an. "Aber der Kommission ist es nicht egal! Machen die anderen ihre Abteilungen größer, und ich tue nichts, kriege ich Ärger mit der Kommission. Denn ich muß es verantworten!"

"Na, dann erzählst du der Kommission eben, daß du das nicht tust, weil du es Unsinn findest! Das kannst du doch wohl sagen? Du läßt dir durch so eine Kommission doch wohl nicht vorschreiben, was du zu tun hast?"

"Das ist natürlich Unsinn."

"Unsinn?" sagte sie drohend. "Rede ich Unsinn? Willst du behaupten, daß ich Unsinn rede? Du gibst mir doch sicher recht, hoffe ich? Du gibst mir doch sicher recht, daß der Mensch sich nicht ausdehnen sollte? Daß es schon idiotisch genug ist, wenn einer sich mit so einer Arbeit beschäftigt? Das siehst du doch sicher noch genauso?"

Er gab darauf keine Antwort.

"In diesem Punkt hat sich deine Meinung doch noch nicht geändert, hoffe ich?"

Er schwieg, in die Enge getrieben.

"Bekomme ich darauf nun eine Antwort oder nicht? In diesem Punkt hat sich deine Meinung doch noch nicht geändert?"

"Ich habe Asjes nicht gefragt", sagte er mürrisch. "Asjes selbst wollte diese Arbeit gern tun."

"Und ob du Asjes gefragt hast!" sagte sie hitzig. "Das hast du mir selbst erzählt! Du hast mir erzählt, daß du Asjes gefragt hättest, weil du dachtest, er würde gern auf dem Büro arbeiten wollen! Du hast ihn gefragt. Du solltest nicht um den heißen Brei herumreden!"

Es war wahr, jetzt fiel es auch ihm wieder ein. Er hatte Asjes gefragt, nachdem Beerta gesagt hatte, daß er nicht hinter Balk und Fräulein Haan zurückstehen dürfe. "Ja, ich habe Asjes selbst gefragt", gab er zu.

"Dann solltest du das auch sagen! Dann solltest du nicht sagen, daß du ihn nicht gefragt hättest, denn das ist einfach nicht so! Wenn Asjes kommt, um bei dir zu arbeiten, dann tut er es deswegen, weil du ihn gefragt hast, und aus keinem anderen Grund!"

"Ja, aber ich habe Asjes gefragt, weil ich der Meinung war, daß er mehr Recht auf die Stelle hat als ich, denn er glaubt an diese Arbeit, und ich glaube nicht daran."

"Nun, dann biete ihm doch deine Stelle an! Ich weiß, wie du es gutmachen kannst! Du bietest ihm einfach deine Stelle an, dann bist du deine Verantwortung mit einem Schlag los!"



"Was ist das bloß wieder für ein Unsinn. Was soll ich denn statt dessen tun? Ich brauche doch eine Stelle? Ich muß doch Geld verdienen?"

"Aber du mußt doch nicht noch mehr Geld verdienen? Du brauchst doch nicht auch noch Chef einer großen Abteilung zu werden, weil andere das so wollen? Wenn die anderen verrückt sind, brauchst du es noch lange nicht zu sein?"

"Ich habe nun einmal die Leitung."

"Ach was, die Leitung! Ja, die Leitung einer Ein-Mann-Abteilung! Sorg dann dafür, daß es so bleibt! Hol dann nicht noch andere dazu, die dir nur Scherereien bringen! Demnächst glaubst du wohl auch noch, daß du Direktor werden mußt."

"Balk wird Direktor."

"Ja, und dann wird Balk zum Professor ernannt, und dann fragen sie dich, und dann sagst du sicher: Ja, ich muß wohl, denn ich bin verantwortlich. - Laß dich mal untersuchen! Abteilungsleiter! Inwieweit du Abteilungsleiter bist, bestimmst du selbst, und du bestimmst auch, wie groß deine Abteilung ist, nämlich Null! Hörst du mir zu? Niemand! Nur du! Und das ist mehr als genug!"

Er zuckte die Achseln. "Das kannst du nicht beurteilen. Das mußt du mir überlassen."

"Dir überlassen?" fuhr sie ihn an. "Das brauche ich dir keineswegs zu überlassen, denn mich gibt es zufällig auch noch! Mich geht es zufällig auch noch etwas an, auch wenn du vielleicht nichts davon hören willst! Wenn du mit so einem Gesicht nach Hause kommst, weil du auf der Arbeit Ärger gehabt hast, muß ich es auffangen! Natürlich geht es mich etwas an! Stell dir nur vor, daß es mich nichts anginge!"

Er schwieg.

"Warum sagst du nichts?"

Er schaute sie unglücklich an. "Was soll ich sagen? Ich habe Asjes nun einmal gefragt. Und ich habe ihn gefragt, weil ich mich verantwortlich fühlte und weil ich dachte, er sei für diese Arbeit geeignet. Was soll ich dazu noch sagen? Es ist nun einmal so. Ich tue es doch auch nicht zum Spaß."

"Dann sag es auch", erwiderte sie, etwas milder. "Und denke das nächste Mal etwas besser nach, bevor du so etwas tust."

Er reagierte nicht darauf. Er erinnerte sich, Ad Muller halb und halb eine Stelle in Aussicht gestellt zu haben, doch der Zeitpunkt erschien ihm nicht günstig, damit jetzt auch noch herauszurücken.



(Übersetzung: Gerd Busse, e-mail: busse@sfs-dortmund.de)


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