Aus: Journal Arbeit, 1. Jg/Nr 1, Frühjahr 2001, Seite 35- 36


Ein Leben für die Wichtelmänner

Der Niederländer J.J. Voskuil beschreibt den Arbeitsalltag an einem Forschungsinstitut

Von Gerd Busse

Mal ehrlich: wer von uns würde einen Roman lesen, der in sieben Bänden und auf 5.000 Seiten daherkommt und - unter dem schlichten Titel Het Bureau ("Das Büro") - im wesentlichen nichts weiter als den Arbeitsalltag an einem kleinen Amsterdamer Forschungsinstitut für Volkskunde beschreibt, und zwar minutiös, über 30 Jahre hinweg?

Für unsere niederländischen Nachbarn hat sich diese Frage längst erledigt. Bislang gingen 250.000 Exemplare der Einzelbände des Romans - der siebte und damit letzte ist soeben erschienen - über die Ladentheke, zu Stückpreisen zwischen 50 und 100 Gulden. Die Bilder glichen sich: jedesmal, wenn ein neuer Band ausgeliefert wurde, bildeten sich lange Schlangen vor den Buchhandlungen, und noch Wochen danach konnte man auf niederländischen Arbeitsfluren Zeuge angeregter Diskussionen über die neuesten Entwicklungen im berühmtesten Büro des Königreichs werden.

Betrachtet man sich den Kult, der seit Jahren um den Roman und seinen Autor J.J. Voskuil (74) veranstaltet wird, scheint es fast so, als ob die Niederländer eine Art Bureaumanie erfaßt hat, eine nahezu unheilbare Krankheit, die über die Lektüre bereits weniger Häppchen des Romans übertragen wird und zu unstillbarem Lesehunger führt.

Ein typischer Fall ist mein Arbeitskollege und Schreibtischnachbar Sjaak, Senior-Wissenschaftler am "Institut für Angewandte Sozialwissenschaft" im niederländischen Nimwegen. Freunde hatten ihm den Roman empfohlen, und bei seinem nächsten Gang in die Städtische Bücherei lieh er sich kurzentschlossen den ersten Band aus. Schon nach wenigen Seiten hatte er sich mit dem "Morbus Voskuil" infiziert, und bald zeigte sich auch bei ihm das klassische Symptombild: Ringe unter den Augen aufgrund exzessiven nächtlichen Voskuil-Konsums, eine Neigung zur Grübelei über die Sinnhaftigkeit seiner Arbeit, ja des Daseins überhaupt, sowie ein zunehmender Realitätsverlust, der sich etwa darin bemerkbar machte, daß er stundenlang über die Frage fachsimpelte, ob Bart Asjes - einer der Romanfiguren und heimlicher Held meines Arbeitskollegen - es wohl jemals schaffen werde, einen Aufsatz zu publizieren und, wenn ja, wie man sich einen solchen Aufsatz dann im einzelnen vorzustellen habe. Die wissenschaftlichen Arbeiten seines erstaunten Zimmernachbarn interessieren ihn dagegen schon lange nicht mehr.

Worum geht es in Het Bureau? Im Mittelpunkt des Romans steht ein gewisser Maarten Koning - ebenso deutlich als Alter ego seines Schöpfers Voskuil erkennbar wie das "P.J. Meertens-Instituut", an dem Voskuil 30 Jahre seines Lebens zubrachte und das ihm die reale Vorlage für das "Bureau" lieferte. Die Geschichte, oder besser, das Martyrium Maarten Konings beginnt im Jahre 1957 mit seinem Eintritt in die Welt der Wissenschaft: einem kleinen, halbvergessenen Volkskundeinstitut in Amsterdam, das sich solch obskuren Dingen wie der Verbreitung von "Wichtelmännchen-Überlieferungen", der "regionalspezifischen Bezeichnung des Blitzes" oder dem Umgang des Volkes mit der "Nachgeburt des Pferdes" verschrieben hat - Forschungsprojekte, bei denen selbst die leidgeprüften "Evaluatoren" in schallendes Gelächter ausbrechen, als sie später auf ihrer Spürtour nach Einsparpotentialen in der niederländischen Wissenschaftslandschaft auf das "Bureau" stoßen.

Wissenschaft ist für Maarten Apekool, ausgemachter Blödsinn, eine Freizeitbeschäftigung für hochbezahlte intellektuelle "Parasiten, die ihre Zeit mit dem Kultivieren sinnloser Hobbys verbringen". Er hätte Bauer werden sollen, fernab jeglicher Zivilisation, oder wenigstens Schalterbeamter - aber er bleibt seiner Arbeit treu, tiefunglücklich, doch aus Pflichtgefühl. Seine Arbeit, das ist das Übertragen von Fragebögen auf Karteikarten und das Zeichnen von "Karten", wobei es ihm ein Rätsel bleibt, was er damit dann weiter tun soll. Also schreibt er alles auf, was er nicht versteht - in der Hoffnung, es dann doch irgendwann zu verstehen; aber als er es schließlich versteht, scheint dies auch nur "Apekool" zu sein.

Und wenn er nicht gerade Karteikarten füllt, geht es "ins Feld", d.h. zu den "Korrespondenten" im Land, deren Geschichten über "früher" er aufzeichnet, um sogenannten "Kulturgrenzen" auf die Spur zu kommen. Oder aber er nimmt an irgendwelchen öden Sitzungen wissenschaftlicher Museumskommissionen oder heimatgeschichtlicher Arbeitsgruppen teil, auf denen er dann den Wissenschaftler mimen muß. Zur Erholung von diesen Strapazen gönnt er sich gelegentlich einen feuchtfröhlichen Gedankenaustausch mit dem flämischen Kollegen in Antwerpen oder besucht eine der regelmäßig stattfindenden internationalen Konferenzen zum "Europäischen Atlas", wo man sich dann über solche Dinge wie die "Europäische Karte des Pfluges" oder der "Jahrfeuer" streitet.

Maarten haßt dieses Leben, doch wenigstens, so redet er sich ein, richte er mit seinem Tun keinen Schaden an, jedenfalls "nicht mehr Schaden als ein Priester, der nicht mehr an Gott glaubt, aber nichtsdestotrotz den Leuten Woche um Woche weismacht, daß das Leben einen Sinn hat." Seine Arbeit ist für ihn eine Strafe: "Im Tausch für mein Gehalt, das zu hoch ist, werde ich acht Stunden am Tag eingeschlossen. Das ist eine moderne Bestrafungsmethode für Leute wie mich, die an der Gesellschaft parasitieren."

Seine Kollegenschar macht ihm die Haftverbüßung dabei auch nicht leichter. Da ist beispielsweise der schlitzohrige Institutsleiter Beerta, ein wissenschaftlicher Scharlatan, der sich alle Welt zum Freund halten will - und sei es um den Preis der Selbstverleugnung. "So ging es immer," erinnert sich Maarten später, "Beerta steckte zurück, bis er wie ein Haufen Dreck in der Ecke lag, um dann, wenn keiner mehr auf ihn achtete, lächelnd wiederaufzustehen." Aus ganz anderem Holz sind da seine Kollegen geschnitzt: etwa der mürrisch-autoritäre Balk oder das zänkische, nur auf den eigenen Vorteil bedachte Fräulein Haan, die Maarten das Leben zur Hölle machen, wo sie nur können. Verglichen mit seinen Untergebenen - allen voran die beiden "wissenschaftlichen Beamten" Ad Muller und Bart Asjes - sind sie allerdings die reinste Wohltat. Während Ad bereits kurz nach Dienstantritt an chronischem Faulfieber zu leiden beginnt und über Jahre hinweg immer wieder wochenlang der Arbeit fernbleibt, hat Bart sich darauf verlegt, solange mit seinem Chef über selbst den winzigsten Arbeitsauftrag zu diskutieren, bis dieser das Handtuch wirft und dessen Job gleich miterledigt. Es gibt Tage, da würde Maarten die ganze Brut am liebsten an die Wand stellen.

Publiziert wird natürlich so gut wie gar nichts am Bureau - pro Wissenschaftler gerade einmal zwei Veröffentlichungen in drei Jahren, wie der neue Direktor Maarten bei Amtsantritt vorrechnet. Doch das ist nur der Schnitt: so bringt etwa das Sorgenkind Bart Asjes in 20 Jahren nur einen einzigen Artikel zustande, der aber noch vor Drucklegung wieder eingestampft werden muß, um größeren Schaden vom Bureau abzuwenden. Und das, was dann dort das Licht der Welt erblickt, ist meist auch das Papier nicht wert, auf dem es geschrieben steht.

Obwohl der berufliche Leidensweg Maartens auf höchst bissige und amüsante Art geschildert wird, ist Het Bureau alles andere als eine bloße Satire auf den modernen Wissenschaftsbetrieb - es ist eine im Wesen zutiefst melancholische Betrachtung über das Leben im allgemeinen und den Status, den darin im besonderen die Arbeit einnimmt. Der überwältigende Erfolg, den der Roman in den Niederlanden hat, scheint zu belegen, daß Maarten sein Schicksal mit Zehntausenden seiner Anhänger teilt - kleinen, unbedeutenden Büromenschen, die wie er tagtäglich daran scheitern, ihr Leben unter dem Druck erzwungener menschlicher Kontakte zu organisieren, die versuchen, ihrer eigenen Arbeit am "Europäischen Atlas" eine tiefere Bedeutung abzuringen und bei alldem einen Rest von Selbstachtung zu wahren.

Mit Het Bureau hat J.J. Voskuil offenbar die Stimmung einer ganzen Nation getroffen. Der Charakter der Arbeit hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten - nicht nur in den Niederlanden - dramatisch gewandelt, und zwar eigentlich, so sollte man meinen, zum besseren. Arbeit ist heute keine Maloche mehr und weniger monoton, seit uns Maschinen die Durchführung schwerer Arbeiten und immer gleicher Handgriffe und Denkroutinen abnehmen, Hierarchien sind längst durch kleine Teams mehr oder weniger gleichberechtigter Individuen ersetzt, die sich an ihren ergonomisch wertvollen Arbeitsplätzen frei über ihre Projekte entfalten können, und Stechuhren lassen sich fast nur noch im Museum besichtigen. All diese Verbesserungen mögen Arbeit erträglicher gemacht haben - eines haben sie jedoch offenbar nicht bewirkt: ihr einen Sinn zu geben.

Solche Einsichten sind auch meinem Kollegen Sjaak aus den Niederlanden nicht fremd - doch sie helfen ihm wenig. Denn er stellt sich derzeit die bange Frage, was um alles in der Welt er bloß lesen soll, jetzt, wo er auch den siebten und letzten Band des Romans verschlungen hat, dessen Titel, "Maarten Konings Tod", jede Hoffnung auf eine Fortsetzung zunichte macht. So mag er es mit ebenjenem Maarten Koning halten, der sich im Anschluß an eine "Kommissionssitzung" einmal fragt: "Großer Gott, warum läßt Du das zu, warum vernichtest Du es nicht, was hat ein solches Leben noch für einen Sinn?"

Mehr Informationen unter: http://huizen.dds.nl/~jdfvh/voskuil.html



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