Het Bureau - ein Buch des Trostes

Erschienen in: MARABO, Nr. 4, April 2001, S. 70

"Während er den Sargdeckel langsam wieder über sich schloß, wurde er wach, überwältigt von einem Gefühl grenzenloser Traurigkeit." ("Het Bureau", Schlußsatz)

Wie kaum ein anderes Thema hat in den letzten Jahren das Schicksal eines gewissen Maarten Koning die Gemüter der Niederländer bewegt. Mit atemloser Spannung sind sie seinem Treiben gefolgt, haben mit ihm die Tiefen einer 30 Jahre währenden Sinnkrise durchmessen und dabei die Hoffnung nie verloren, daß sich das Blatt vielleicht doch noch wenden und sein Martyrium ein Ende nehmen könnte. Doch jetzt heißt es für sie Abschied nehmen: "Maarten Konings Tod", der siebte und letzte Band einer bemerkenswerten Lebensbeichte, ist erschienen.

Das Merkwürdige ist, daß Maarten Koning niemals existiert hat - zumindest nicht unter diesem Namen. Maarten Koning ist die Romanfigur, mit der sich der Amsterdamer Autor J.J. Voskuil sein 30jähriges Dasein als "Wissenschaftlicher Beamter" an einem kleinen Volkskundeinstitut von der Seele schrieb, das er zum schillernden Gegenstand eines 5.000seitigen Romans mit dem Titel "Het Bureau" (Das Büro) erkor.

Die Geschichte beginnt 1957. Mangels besserer Alternativen heuert Maarten an einem halb- vergessenen Institut für niederländische Volkskultur in Amsterdam an. Zu seinen ersten Auf- gaben gehört eine Untersuchung über "Wichtelmännchen", und in einer Feldstudie versucht man, über den Umgang mit der "Nachgeburt des Pferdes" sog. "Kulturgrenzen" aufzuspüren.

Kein Wunder, daß Maarten seiner Arbeit nicht viel Sinn abgewinnt, doch er tut sie aus Pflicht- bewußtsein. Er verbringt seine Tage mit dem Anlegen von Karteikarten über Dinge, die er nicht versteht, langweilt sich auf unzähligen "Sitzungen" und "Besprechungen" und hadert mit seinem Leben.

Das Institut wächst, und die Probleme wachsen mit - etwa in Gestalt zwei der Untergebenen Maartens. Während der eine bereits kurz nach Dienstantritt von einer ominösen "Pustel" im Rachen heimgesucht wird, die seine Körpertemperatur auf den lebensbedrohlichen Wert von 37,2 Grad hochschnellen läßt und ihn über Jahre hinweg immer wieder ans Krankenlager fesselt, ist der andere ein Totalverweigerer: geschickt versteht er es, seinen Vorgesetzten durch endlose Diskussionen so zu zermürben, bis dieser das Handtuch wirft.

Auch der Rest dieses "Haufens von Tölpeln" ist keine Zierde der Zunft. Wenn sie nicht gerade an ihren (seltenen) Artikeln werkeln - deren wissenschaftliche Qualität so gotterbärmlich ist, daß Maarten gelegentlich durch Publikationsverbot eingreifen muß -, hecken sie eine Intrige gegen ihren Chef aus. Dabei wäre er wirklich der letzte, der dies verdient hätte, ein Mann, der sich um seine Leute wie der gute Hirte um seine Schäfchen kümmert. Aber kaum hat Maarten seinen wohlverdienten Ruhestand angetreten, macht sich seine Abteilung daran, die Spuren seines Wirkens zu tilgen - bis hin zur spontanen Entfernung seines Schreibtisches, den man ihm zu- nächst belassen hatte.

Seit dem Erscheinen des ersten Bandes im Jahre 1996 hat sich "Het Bureau" in den Niederlanden zu einem nationalen Großereignis entwickelt. Bislang konnte der Verlag 250.000 Exemplare der Bände verkaufen, doch das Heer derer, die Anteil am Leben Maarten Konings genommen haben, dürfte - auch dank des Medieninteresses an dem Roman - um ein Vielfaches größer sein. Als das reale Bureau vor ein paar Jahren umzog, wurden vorher Führungen für Voskuil-Fans ver- anstaltet. Ein Theaterstück nach Romanmotiven ist seit Monaten ausverkauft, und der Amsterdam-Tourist kann mit einem Reiseführer die Leidensstätten Maarten Konings abschreiten. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte der Bureau-Kult mit einer Fernseh-Talkshow, in der einige der realen Vorlagen für das menschliche Pandämonium Voskuils vor der Nation Rechen- schaft ablegen mußten.

Sogar auf den Sterbelagern des Landes ist "Het Bureau" ein Thema. Die bekannte Amsterdamer Stadträtin Annemarie Grewel wandte sich kurz vor ihrem Tod 1998 an den Voskuil-Verleger van Oorschot mit der Bitte, ob er ihr nicht Einblick in die noch nicht erschienenen Bände des Romans gewähren könne - eine Bitte, die er ihr leider abschlagen mußte. So dürfen wir also froh sein, noch genug Leben in uns zu haben, um ihn genießen zu können: "Maarten Konings Tod", den letzten Band der "Het Bureau"-Reihe.

Was ist an diesem Buch, daß es Sterbenden bereits das Letzte Sakrament ersetzt? Ist es der schonungslose Blick in die Abgründe einer kleinen, aber aufrechten Bürokratenseele namens Maarten Koning, der den Nerv seiner Leser getroffen hat? Oder aber ist es die Tatsache, daß viele Leser in sich selbst auch so einen Maarten Koning entdeckt haben, der seit Jahren versucht, einer sinnlosen Arbeit in einer Institution, die niemand braucht, eine tiefere Bedeutung ab- zuringen? Er ist wie sie: jemand, der tagtäglich seine Pflicht tut in diesem "Dschungel da drau- ßen", einer, der von Flucht träumt und der sich dann mit den Verhältnissen zu arrangieren lernt, aber auch einer, der das Gefühl nicht los wird, daß es das doch nicht sein kann, was man sich vom Leben erhofft hat.

Der Theologe Erik van Halsema - Betreiber einer Voskuil-Website - sieht in "Het Bureau" ein "Buch des Trostes". Vielleicht hat er recht: den dumpfen Grundzweifel an der Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns und Strebens - bei Maarten findet man ihn in Worte gefaßt. Man steht nicht mehr allein mit seinem Gefühl, und das hat tatsächlich etwas Tröstendes.

Gerd Busse

Mehr Informationen unter: http://huizen.dds.nl/~jdfvh/voskuil.html


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