Wo die Wichtelmännchen wohnen

Vorsicht: Ansteckungsgefahr:

Die Büro-Romane von J.J. Voskuil faszinieren die Niederländer



Von: Gerd Busse
20-03-1999
in: "Frankfurter Rundschau"


In den Niederlanden bildet er das Gesprächsthema Nummer eins - seit Jahren hat dort kein Buch soviel Aufmerksamkeit erregt wie der siebenbändige Romanzyklus Het Bureau ("Das Büro"), dessen fünfter Band vor kurzem erschienen ist. Mittlerweile genießt der Roman - ebenso wie sein Autor J.J. Voskuil (72) - Kultstatus, das Erscheinen jedes Fortsetzungsbandes wird in den Medien bejubelt und in den zahlreichen Amtsstuben des kleinen Königreichs wochenlang eifrig diskutiert. Fast scheint es so, als ob unsere Nachbarn eine Art Bureaumanie ergriffen hätte, eine in den meisten Fällen unheilbare Krankheit, die über die Lektüre bereits weniger Passagen des Romans übertragen wird und zu unstillbarem Lesehunger führt. Die einzig wirksame Therapie dagegen: noch mehr Voskuil.

Für den deutschen Leser besteht vorläufig noch keine Gefahr, sich ebenfalls mit dem Morbus Voskuil zu infizieren. Zwar habe es nach Auskunft des Amsterdamer Verlegers von Voskuil, Wouter van Oorschot, in jüngster Vergangenheit bereits eine Reihe deutscher Interessenten gegeben, doch bislang habe kein Verlag hierzulande den Mut aufbringen können, diesen umfangreichen Roman von insgesamt etwa 5.200 Seiten in deutscher Übersetzung herauszubringen.

Dabei hat Het Bureau einiges zu bieten, was ihn auch bei uns zu einem Bestseller machen könnte. Der Roman beschreibt über einen Zeitraum von 30 Jahren (1957-1987) das Leben und Treiben an einem kleinen, real existierenden, Amsterdamer Institut für Volkskunde, an dem man sich mit Themen wie der Verbreitung von "Wichtelmännchen"-Überlieferungen, dem traditionellen Umgang mit der Nachgeburt des Pferdes oder einer Typologie des Dreschflegels beschäftigt. Hauptperson des Romans ist Maarten Koning - das Alter ego des Autors J.J. Voskuil -, der sich aus einer kühl-distanzierten Beobachterperspektive zum Chronisten seines Instituts macht.

Koning, ein kontaktscheuer, von Unsicherheit und Selbstzweifeln geplagter Zeitgenosse, wäre eigentlich lieber Bauer oder etwas in der Art geworden und findet sich statt dessen plötzlich in einem komplizierten Mikrokosmos aus Intrigen, Machtspielen und wissenschaftlicher Großmannssucht wieder, in dem er mühsam seine seelische Balance zu behaupten versucht. Die sinnentleerten, von Ehrgeiz und Prestigedenken getriebenen Sitzungen und Konferenzen in den Fachkollegien bereiten ihm dabei ebensolches Unbehagen wie der erzwungene Umgang mit seinen (wie das "Bureau" selbst nach der Erinnerung des Autors gezeichneten) Bürokollegen.

Die Bürokollegen: das ist etwa der homophile Institutsdirektor Dr. Anton Beerta, der offen zugibt, in seinem ganzen Leben noch keine einzige originelle Idee gehabt zu haben, dessen Stärke jedoch darin liegt, sein Institut mit viel Taktiererei und einem gehörigen Schuß Opportunismus durch die seichten Gewässer des niederländischen Wissenschaftsbetriebs zu steuern. Da wären auch Beertas Nachfolger, der autoritäre, machtversessene Jaap Balk, sowie das intrigante, meist übellaunige Fräulein Haan zu nennen. Und keineswegs vergessen darf man die beiden Untergebenen Maartens, die "wissenschaftlichen Beamten" Ad Muller und Bart Asjes: ein Simulant der eine, der andere ein notorischer Arbeitsverweigerer.

Seine wissenschaftliche Tätigkeit ist für Maarten Koning keine Berufung, sondern bestenfalls Broterwerb. "Wenn der Minister hier hereinkäme und sagen würde: Herr Koning, was tun Sie hier eigentlich? müßte ich ihm sagen: Nichts, Exzellenz! Meine Arbeit ist vollkommen sinnlos und ohne jeden Wert." Das Hauptmotiv Maartens, dieses absurde Spiel bis zum bitteren Ende mitzuspielen, besteht in seinem tiefen Pflichtgefühl, ein Charakterzug, der regelmäßig zu erbitterten Konflikten mit seiner Frau führt, die nicht einsehen mag, daß ihr Mann überhaupt einer geregelten Arbeit nachgehen muß.

Es ist viel über die Frage spekuliert worden, was die Gründe dafür sein mögen, daß dieser Roman so viele Leser in seinen Bann schlägt. Ein Punkt ist sicher der hohe Wiedererkennungseffekt, den er auf seine Leser ausübt. Jeder, der schon einmal in einem Büro gearbeitet hat, ist mit den von Voskuil geschilderten Situationen, dem Bürotratsch, den Kommunikationsstörungen, den Konflikten zwischen Kollegen, dem gegenseitigen Futterneid, den Hänseleien sowie den Sitzungsritualen bestens vertraut.

Der Leser betritt mit Het Bureau also eine ihm durch und durch bekannte Welt. Nach ein paar hundert Seiten bewegt er sich ebenso selbstverständlich durch die Lokalitäten des Instituts wie Maarten Koning, kämpft wie dieser mit den Eigenarten der Kollegen dort - die z.T. von einer solchen Bizarrerie sind, wie sie nur das Leben selbst hervorbringen kann - und nimmt an ihrem absurden Treiben teil, kurzum: er ist einer von ihnen.

Insbesondere aber ist der Roman ein Leckerbissen für all jene, die selbst in der wissenschaftlichen Welt zu Hause sind und sich mit ihren persönlichen Wichtelmännchen-Projekten herumschlagen. Solche Leser bekommen etwas geboten, was ihnen als Außenstehende ansonsten strikt verwehrt bleibt: einen intimen Einblick in die - auch geheimsten - Interna eines wissenschaftlichen Nachbarbetriebes. Dies, die detaillierte Schilderung der Verhältnisse an einem Forschungsinstitut in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, macht den Roman zugleich zu einem sozialhistorischen Dokument ersten Ranges: hier läßt sich erfahren, wie Wissenschaft vor dem Zeitalter des Computers und der e-mail funktionierte, was es bedeutete, als "Wissenschaftlicher Beamter" in unkündbarer Stellung forschen zu können, und welchen Einfluß äußere, gesellschaftliche Ereignisse und Moden auf das wissenschaftliche Denken und Handeln hatten.

Doch dies alles erklärt nur zum Teil den großen Publikumserfolg von Het Bureau. Denn was die Lektüre des Romans wirklich zu einem Erlebnis macht, ist der lakonische Plauderton in den oft urkomischen Dialogen und Situationsbeschreibungen. Und es ist jene beunruhigende, ja bedrohliche Atmosphäre, die wie Mehltau über dem Ganzen liegt. Elsbeth Etty, Rezensentin der Tageszeitung NRC Handelsblad beschreibt diese Atmosphäre als ein "leeres Universum" und wagt dabei den Vergleich zu einem anderen großen Nihilisten. "Voskuils Prosa ist von derselben Morbidität wie die Kafkas, bringt jedoch einen entgegengesetzten Effekt zustande. Der Autor läßt keinen Zweifel daran bestehen, daß das Leben vollkommen sinnlos ist. Jeder, der dies leugnet (...), trägt Mitschuld an der Aufrechterhaltung einer Lüge. Eine Lüge, der wir zugleich allesamt verfallen sind."

Treffender läßt sich der Erfolg und die Wirkung von Het Bureau nicht erklären. Doch mit Selbsteinsicht allein ist dem Voskuil-Junkie schon lange nicht mehr gedient. Denn er stellt sich bereits heute die bange Frage, was um alles in der Welt er bloß nach dem siebten - und damit letzten - Band des Romans lesen soll. Dieser Band wird einen Titel tragen, der dazu angetan ist, ihm auch den letzten Funken Hoffnung zu nehmen: "Maarten Konings Tod".



One page up

Deze pagina wordt onderhouden door Erik van Halsema (jdfvh@dds.nl)

Last change of this page: 17 april 2000